Montag, April 30, 2012

Das Argument „erst mal bei sich selbst anfangen“ als Abwehr gegen die Notwendigkeit „erst mal bei sich selbst anzufangen“

Als Ergänzung zu dem Blogeintrag „Die Andern

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Sicher ist es richtig, daß der Mensch, so er die Welt verändern will, erst mal bei sich selbst anfangen soll.

Wenn einer das so sagt, und es tatsächlich auch so meint, geh ich mit ihm einig.

Vorausgesetzt: er meint es wirklich so.

Wenn aber jemand – was typisch ist – mit dem Argument „du suchst die Schuld immer nur bei den andern“ gedankenlos die Schilderung von Unstimmigkeiten beiseiteschiebt, weil er sich gedankenlos und unhinterfragt dem Geschilderten verbunden fühlt – der benutzt das Lippenbekenntnis vom „erst mal bei sich selbst anfangen“ bloß als Abwehr gegen die Notwendigkeit, tatsächlich „erst mal bei sich selbst anzufangen“.

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Der Mensch ist ein soziales Wesen; „innere“ und „äußere“ Veränderungen gehen nahtlos ineinander über.

Wer seine eigenen Unstimmigkeiten geflissentlich übersieht, sie gar teilweise in Stärken uminterpretiert – dessen Eingriffe in die Welt werden die Spuren von diesen seinen Unstimmigkeiten tragen.

Auf der andern Seite haben die sozialen und kulturellen Bedingungen einen unübersehbaren Einfluß auf Leben und Entwicklung des Einzelnen (klingt komisch, das überhaupt zu erwähnen; doch noch komischer ist, daß manche das nicht zu wissen scheinen); und diese Bedingungen können mitunter von solcher Art sein, daß selbst die begabtesten, charakterstärksten, selbstkritischsten Persönlichkeiten zu Untätigkeit und Untergang verdammt sind.

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Eben.

Sonntag, April 29, 2012

Originalität und Schrulligkeit

So du in ehrgeiziger Originalitätssucht krampfhaft bemühst bist, „anders zu sein als andere“ – so hast du gute Chancen, daß man dich mit deinem Manierismus als originell betrachtet und als fortschrittlich.

So du aber locker und unverkrampft in eigener Weise und in eigenem Stil eigene Gedanken äußerst, die sich zufällig mit keiner der offiziellen Sichtweisen decken – so ist das schrullig und fremdartig.

Da kenne sich einer aus.

Iss aber im Prinzip egal.

Donnerstag, April 26, 2012

Die “Andern”

Man soll nicht immer „den anderen“ die Schuld geben. Hört man immer wieder.

Wer brav in unhinterfragten mehr oder weniger funktionierenden Strukturen vor sich hin lebt und die „weite Welt“ nur aus Erzählungen kennt – dem bleibt mitunter unverständlich: daß es Situationen geben kann, in denen man ohne Unterstützung aufgeschmissen ist und wo auch fromme Predigten über Menschheitsfortschritt nicht weiterhelfen. Man ist ganz real auf „Andere“ angewiesen; und wenn diese „Anderen“ sich in ihrer abgeschlossenen Welt mit frommen Predigten gemütlich machen und für alles andere kein Interesse haben – dann passiert es halt, daß hoffnungsvoll Begonnenes untergeht, mitunter zusammen mit den Initiatoren. Oder auch, daß sinnvolle Ansätze gar nicht erst richtig zustandekommen und bereits „in statu nascendi“ auseinanderfließen.

Es gibt Situationen, da nützen alle Fähigkeiten, alle Charakterstärke nix: Der Mensch ist aufgeschmissen.

Was interessierte den SS-Mann, der eine Gruppe Verdammter in die Gaskammer dirigierte, ob da irgendwelche darunter sind, die irgendwelche Bücher geschrieben haben, mal zu irgendwelchen Nobelpreisen nominiert waren, oder generell vielleicht ganz andere Lebensaufgaben hätten, als nun in der Gaskammer zu verrecken? Interessierte ihn nicht; basta.

Was heißt hier: man soll nicht immer den „Anderen“ die Schuld geben? Es waren die „Anderen“, die diese Menschen in die Gaskammern dirigierten; von sich aus wären sie da nicht hineingegangen.

Und was für diese griffige extreme Situation gilt, gilt genauso für viele andere Situationen; auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen.

Was ist mit den anonymen Massen, die in Deutschland via Hartz4 in ein neues Untermenschentum abgedrängt werden? Was können die noch tun? Nix können sie tun. Vereinzelte schaffen es vielleicht; aber auch nur dann, wenn sie in ihrem Umfeld ein paar „Andere“ haben, mit denen sie sich zusammentun können.

Es geht da auch gar nicht darum, mitleidsvoll von oben herab Nächstenliebe walten zu lassen und irgendwelchen Armseligen mit Almosen auszuhelfen.

Wie Goethe richtig sagt:

„Einer allein hilft nicht; es hilft, wer sich mit vielen zur rechten Stunde verbündet“

Das ist etwas anderes als fromme Predigten. Doch dazu braucht es Wahrnehmungsfähigkeit und über die engen vier Wände hinausgehendes Interesse.

Fromm Predigen iss natürlich einfacher; da braucht man das alles nicht.

Bloß bringt es nix

Doch die Lage ist nicht aussichtslos.

Da die unhinterfragte tragende Strukturen unübersehbar am Kaputtgehen sind, werden auch viele von diesen autistischen Predigern nach und nach die Chance bekommen zu lernen: daß sie ohne „die andern“ nix machen können.

So isses

Freitag, April 13, 2012

Grassiade

“Die Wulffiade ist vorbei, die Grassiade scheint am Abflauen. Was kommt als nächstes?
Der Mensch von heute liebt den weit ausholenden Kaffeeklatsch; und sicher findet sich bald die nächste Mücke, die sich zu einem Elefanten aufpusten läßt, aufdaß sie von den realen Elefanten ablenke.”

(Wilhelm von Dorten)

Nach der Wulffiade begann die Grassiade. Mich wunderte, daß Grass – der doch aber um einiges intelligenter scheint als der Wulff – auf all diesen Schwachsinn überhaupt reagierte.

So von der Seite, aus den Augenwinkeln betrachtet wirkt det alles recht komisch: wie Journaille und Literatursnobs mitsamt Stammtischpropheten sich in Positur werfen und, Entrüstung markierend, referieren zu diesem Gedichte, das viele – wie sich herausstellte – nicht einmal gelesen haben.

Von einer Bekannten, die sich durch diesen Hokuspokus nicht einfangen ließ, hörte ich die Ansicht: das sei eine unter den Hauptinitiatoren besagter Grassiade – inklusive Grass selbst – abgesprochene Werbekampagne; der Verlag hätte genau gewußt, was er tut; und in Deutschland würde heute kein solider Verlag es wagen, ohne Absicherung irgendwas „antisemitisches“ zu veröffentlichen.

In dem ganzen Vorgehen erblickte sie gewisse Momente von „Magie“; und den „Zauberspruch“ – das Gedicht also – habe sie gar nicht gelesen.

Für das Weitere möchte ich von dieser ihrer Sichtweise ausgehen:

Ich halte es für unwahrscheinlich, daß es sich um eine gezielt aufgezogene Werbekampagne handelt; würde aber nicht zur Gänze ausschließen, daß dem doch so ist. Möglich ist alles: Gezielt ein paar untereinander verbundene „soziale Steuerpunkte“ setzen, und die analphabetische Herde aus Journaille-Fußvolk, Literatursnobs und sonstigen Schwätzern läuft, wohin man will.

Selbst hab ich jenes Gedicht noch nicht gelesen, da das Gemache drum herum mich zu sehr anekelt. Vielleicht lese ich es irgendwann, wenn das Gewusel sich gelegt hat. Oder auch nicht.

Rein theoretisch, ohne das Gedicht gelesen zu haben, würde ich nicht ausschließen, daß es keine Spur antisemitisch ist. Nämlich läßt sich – wie die Erfahrung zeigt – bei geschicktem demagogischem Vorgehen jedem beliebigen Sachverhalt jedes beliebige Etikett anhängen und damit jeden beliebigen Grad von Massenhysterie entfesseln. Bei Leuten mit etwas weiterem Horizont, die sich zu weit an die Öffentlichkeit wagen, passiert es ja leicht, daß sie mit den allerverschiedensten teilweise einander widersprechenden Etiketten bedacht werden (Solschenizyn, zum Beispiel, war gleichzeitig Judenknecht und Antisemit, russophob und russischer Nationalist, und vieles andere mehr).

So daß möglicherweise weder Grass noch der Verlag irgendwelche Absichten in Richtung werbewirksamen Skandal hatten und daß das Geplärre einfach so losging. Mir scheint das am wahrscheinlichsten; aber um wirklich zu kapieren, was gelaufen ist, müßte ich es mir natürlich näher anschauen.

Ob man jenes Gedicht als „Zauberspruch“ bezeichnen kann, weiß ich nicht da ich es – wie gesagt – nicht gelesen habe; kennen tu ich nur den „shitstrom“. Daß aber die Bewußtseinsmanipulation, welche Menschen in Herdenvieh verwandelt und solche „Shitströme“ möglich macht, ins Reich der schwarzen Magie hineinragt – würd ich auch sagen.

Wenn ich jenes Gedicht nicht lese, so nicht, weil ich Angst vor irgendwelcher magischer Wirkung hätte, sondern weil der „shitstrom“, in den es eingebettet ist, mich ganz elementar anwidert. Vielleicht taugt es sogar was; ich kann es nicht sagen. Es ist, wie wenn man in einer Kloake irgendwas erblickt, das vielleicht interessant sein könnte; aber nur deswegen, weil es vielleicht interessant sein könnte, in den Dreck greifen – muß ja nicht sein. Vielleicht lese ich es, wenn der Dreck getrocknet und abgefallen ist.

So‘n Shitstrom lebt ja aus den verschiedenartigsten in verschiedener Dosierung gleichzeitig wirkenden treibenden Kräften. Eine davon ganz sicher – Eitelkeit und reine Lust am Ausleben von Geschwätzigkeit. Was man sicher nicht findet ist gedankliches Aufarbeiten. Auslöser sind irgendwelche Schlagwörter, Reizwörter. Ein solches Reizwort ist „Antisemitismus“.

Günstigstenfalls verbindet man ja mit einem Wort irgendeinen Begriff, oder, anders ausgedrückt: man meint etwas damit. Mitunter bzw. häufig ist es auch so, daß mit einem und dem gleichen Wort – ohne daß man es durchschauen würde – ganz verschiedene Begriffe gemeint sind; dann meint halt jeder was anderes, und man redet aneinander vorbei. - Ein Wort als Schlagwort oder Reizwort hat nur ein ganz spärliches begriffliches Anhängsel; nicht mehr als es braucht, um reizausübend wirken zu können.

Wenn dem Kleinkind der Schnuller aus dem Bette fällt, beginnt es reflexhaft zu weinen. Und der kindgebliebene Erwachsene, wenn er ein Schlagwort hört, wirft sich reflexhaft in Positur und beginnt zu plärren; wobei der Inhalt seines Geplärre davon abhängt, welcher Herde er sich zugehörig fühlt.

Vor 70 Jahren wurden in Deutschland und den von Deutschland eroberten Gebieten aus unerfindlichen Gründen zahllose Menschen amtlich zu Juden erklärt, als solche entwürdigender Drangsalierung unterzogen und in großer Zahl ermordet. Manche wußten, daß sie jüdische Vorfahren hatten, manche bekannten sich zur jüdischen Religion; und nicht wenige erfuhren erst auf amtlichem Wege, daß sie „Juden sind“ und der für solche vorgesehenen Drangsalierung unterliegen. – Nun gut; die Frage, was für einen Begriff man mit dem Wort „Jude“ verband, hab ich mal in einem früheren Blogeintrag  angedeutet; das würde jetzt zu weit führen, det noch einmal aufzurollen.

Vor 70 Jahren wurden Millionen von Menschen sinnlos entwürdigender Drangsalierung unterzogen und systematisch ermordet.

Vor 70 Jahren.

Konkrete Menschen; auch wenn es so viele waren, daß die Einzelschicksale – auch die erleuchtetsten Geister, die stärksten Charaktere – in der Masse untergingen.

Ich würd sagen: wer sich heute mit dem Etikett „Jude“ schmückt, um das Elend jener Menschen vor 70 Jahren zur Erlangung irgendwelcher Vorteile oder gar als Rechtfertigung für eigenes widermenschliches Verhalten zu mißbrauchen – der macht sich nicht nur ebenjenes widermenschlichen Verhaltens schuldig, sondern auch des Verrats an denjenigen, die damals unter der Naziherrschaft litten und deren Leiden für ihn nun willkommenes Alibi ist.

Eine lesbare Auseinandersetzung mit der Grassiade fand ich hier. Für das im Mainstream mitschwimmende seriöse Volks ist das nur ein unseriöser Blogger; aber als unseriöser Blogger darf er sich dafür den Luxus leisten, sorgfältig zu recherchieren und seine Aussagen nachprüfbar zu untermauern.

So isses