Dienstag, März 30, 2010

Was einen zum Auswandern treiben kann

2009_12_22

Selbst chronischer Auswanderer (mit Vorliebe für russischsprachige Länder) schaute ich mir die Auswanderungsratschläge auf der Netzpräsenz einer mir interessant scheinenden Lebensberaterin an. Was mir zum Anstoß gereichte, gewisse – wie auch hier – meist übersehene Komponenten der zum Auswandern drängenden Motive und Triebfedern mal näher unter die Lupe zu nehmen.

Nämlich scheint mir, daß besonders in Europa die Gründe für Auswanderung mitunter nicht nur in der immer prekärer werdenden wirtschaftlichen Situation und in möglicherweise aufziehenden Gefahren für Leib und Leben liegen, sondern vielmehr noch in der allen übrigen Katastrophen zugrundeliegenden „kulturellen“ Situation.

Das Verhängnis der Europäer und vor allem der deutschsprachigen Europäer sehe ich darin, daß sie oft nicht in der Lage sind, lebendige Denkansätze, Erlebnisansätze lebendig weiterzuentwickeln und sofort alles in Traditionen, Dogmen, Programmen erstarren lassen (wobei in der europäischen Geistesgeschichte durchaus entwicklungsfähiges Leben veranlagt wäre). Ansätze zu eigenen Fragen, zu eigenem lebendigem Streben verschwinden unter einem Wust aus Abgestorbenem; und entsprechend nimmt man auch das innere Leben oder die Keime inneren Lebens seiner Mitmenschen nicht mehr wahr. Die Gesellschaft atomisiert so zu einem Sammelsurium in sich abgeschlossener, weder sich selbst noch ihrer Umgebung rechtes Interesse, geschweige denn Verständnis abgewinnender Einzelner. – Das heutige soziale, wirtschaftliche Geschehen ist so kompliziert, daß es zu seinem Funktionieren auf bewußte, lebendige Menschen angewiesen wäre. Und die Wurzeln zu den sich abzeichnenden wirtschaftlichen und politischen Katastrophen sehe ich eben in der vonstattengegangenen kulturellen Katastrophe, das heißt im seelischen Absterben des Menschen.

Der Drang, diese einstmals kulturtragenden Gebiete zu verlassen, kann – neben der sich abzeichnenden materiellen Verelendung weiter Kreise und möglicherweise heranrückenden Gefahren für Leib und Leben – seine Wurzeln auch noch darin haben, daß für Menschen, die einen Rest an innerem Leben in sich bewahrt haben, der Aufenthalt in diesen abgestorbenen Wüsteneien mit geistig-seelischen Erstickungsanfällen verbunden ist. Und die Gefahren eines Aufenthalts in äußerlich unsicheren Gebieten – wenn man dabei die Gelegenheit hat, unter Menschen zu leben, mit denen man sich verständigen kann – sind bei Neigung zu solchen Erstickungsanfällen unter Umständen leichter zu verkraften als das Vegetieren in den – noch – sicheren europäischen Gefilden.

Es grüßt aus Tbilissi
Raymond Zoller

Doppelnas

Nachbemerkung

Diesen Text findet man auch in einer Zusammenstellung, die den Titel trägt "Wegmarken auf dem Weg in die Katastrophe" und die man unter https://dl.dropboxusercontent.com/u/54042052/KL_Wegmarken.pdf anschauen und/oder herunterladen kann.

Aus dem Vorspann:

"Bewußt bin ich mir, daß zu dem Zeitpunkt, da ich diese Vorbemerkung in den Computer tippe (Ende April 2013), viele Zeitgenossen nicht recht verstehen werden, von welcher Katastrophe hier die Rede sein könnte.

Und im Herbst 2008, als die erste der hier veröffentlichten Notizen zustandekam, waren es zweifellos noch viel mehr.

Doch die Zeiten ändern sich; immer mehr von jenen, die von keiner herannahenden Katastrophe etwas merkten oder merken wollten, werden von deren sich ausweitenden und sich Platz bahnenden Fluten erfaßt oder direkt damit konfrontiert, oder entdecken aus sonstwelchen Gründen, daß irgendwas nicht stimmt."

Doppelnas

Keine Kommentare: